food for thought, brain food and nourishing food
Die Anorexie ist von einem komplexen Symptombild geprägt. Und eines der am häufigsten beobachteten Symptome ist die Hyperaktivität in Form von physischer Aktivität. Hyperaktivität kann tatsächlich bei etwa der Hälfte aller anorektischen Patient*innen beobachtet werden.
Vielleicht kennst du das ja auch von dir selbst: In der Phase, als ich selbst meine Nahrungszufuhr stark eingeschränkt habe, schien ich von außen energiegeladen und bin beim Wandern schon eher den Berg hochgesprungen – und das fast ohne zu schwitzen. Es schien ziemlich mühelos obwohl ich unterernährt war.
Die Hyperaktivität äußert sich häufig in Form von exzessiver Sportbetätigung wie Laufen, Fahrradfahren oder Kraftübungen (ja, auch diese Fittnessstudio-Sucht, die viele Recovery-Accounts anpreisen muss nicht unbedingt so gesund sein!). Es geht so weit, dass die Patienten selbst in Ruhe ständig mit einem Bein wippen müssen, mit den Fingern auf den Tisch tippen oder lieber stehen als sitzen.
Falls du also ein oder mehrere Symptome davon an dir selbst beobachten kannst, dann bist du auf bestem Weg mehr davon zu erfahren und auch zu Anregungen zu erhalten, wie du dieses zwanghafte Verhalten besänftigen kannst.
Warum hat man ständig den Zwang sich zu bewegen, hin und her zu wippen und am besten nie still zu stehen? Nicht selten brechen Patienten vor Schwäche zusammen. Sie ziehen sich Verletzungen zu, trainieren trotz Erschöpfung oder Verletzung und haben eigentlich gar keine richtige Freude mehr an der Bewegung.
Die gängigste Annahme ist, um das Gewicht zu reduzieren – dass also die Hyperaktivität der zwanghaften Gewichtsreduktion dient.
Doch neuere Forschungen zeigen, dass die körperliche Hyperaktivität nicht nur der kognitiven Kontrolle unterliegt. Die Hyperaktivität hat unter anderem auch physiologische Ursachen.
Heute steht uns Nahrung immer und überall zur Verfügung. Die meisten von uns kommen ziemlich mühelos an Nahrung. Doch das war nicht immer so. Unsere Vorfahren (Jäger und Sammler) mussten in nahrungsreichen Perioden Körperfettreserven ansammeln, welche dann in nahrungsarmen Perioden das Überleben sicherten. Dies erlaubte dem Menschen Hungerperioden zu überstehen. Und wie spielt hier jetzt Hyperaktivität rein?
Naja, wenn es kein Essen gab und eine Hungerperiode vorlag, dann konnten die Jäger und Sammler nicht einfach rumsitzen und ihre Energiereserven schonen, denn das Essen kam eben nicht einfach per Uber vor die Haustüre geliefert. Die Hyperaktivität während der Phasen des Hungers kann als ein evolutionärer Schutzmechanismus angesehen werden. Unsere Vorfahren waren dadurch in der Lage Nahrung effizienter zu beschaffen.
Für den Zusammenhang von Hyperaktivität und Anorexie gibt es ein interessantes Tiermodell: Ratten, die in einem Laufradkäfig gehalten werden, steigern allmählich ihre Aktivität. Reduziert man nun den Zugang zur Nahrung auf eine Stunde pro Tag, so steigern sie ihre Laufaktivität in exzessiver Weise. Wird das Experiment nicht abgebrochen, endet es letal (=tödlich!!!). Der gleiche Effekt tritt auf, wenn zwar permanent Futter angeboten wird, die Futtermenge aber auf 50% der Nahrungszufuhr unter Ruhebedingungen reduziert wird.
Physische Aktivität und Unterernährung scheinen sich also gegenseitig paradoxer Weise zu potenzieren.
Auch wenn diese Beobachtungen an Tieren nicht 1:1 auf den Menschen übertragen werden können, aber sie geben erste Aufschlüsse darauf, wie Mangelernährung und Hyperaktivität in Verbindung stehen.
– Mangelernährung kann zu Versagen von Gehirnteilen führen, die bei Entspannung/Regeneration und Aktivitätsregulation beteiligt sind
– Kortikosteron: beteiligt beim Stoffwechsel und der Gluconeogenese (Energiebereitstellung durch den Abbau von Muskelmasse) – notwendig, da das ZNS zu 70% auf Glukose angewiesen ist = sichert das Überleben
– Nordadrenalin Turn-Over: Abnormal niedrig durch Unterernährung, durch Bewegung wird die Konzentration von Noradrenalin jedoch erhöht. (Noradrenalin hat eine Aktivitätssteigernde Wirkung, bei der Stressreaktion beteiligt und hat einen positiven Einfluss auf Motivation) Was wiederum eine Erhöhung des Serotonin-Turnovers anregt. Der Mangel von Noradrenalin scheint also über einen kürzeren Zeitraum durch die Hyperaktivität ausgleichbar zu sein, jedoch hält die Hyperaktivität die Mangelernährung aufrecht und die Mangelernährung die Hyperaktivität, sodass früher oder später die Körpereigenen Ressourcen aufgebraucht sind (endet letal)
>> Bei der Anorexie ist Hyperaktivität also keine Störung des Nervensystems an sich, aber eine Adaption an die Mangelernährung
Falls du jetzt nicht alles so ganz nachvollziehen konntest, ist das gar nicht schlimm. Mit anderen Worten bedeutet das einfach, dass die empfundene Hyperaktivität und der vermeintliche Energieüberschuss ein Resultat der Mangelernährung ist. Das ganze ist auf chemische Reaktionen in deinem Gehirn zurückzuführen. Und auch wenn das jetzt erst mal schön und gut klingt, hält die Hyperaktivität – oder besser gesagt das Nachgehen des Bewegungsdrangs – die Essstörung aufrecht. Und daran ist gar nichts schön zu reden: 10-15% aller Anorexie Patienten sterben daran.
Die Folgen einer Anorexie sind ohnehin schon schwerwiegend. Insbesondere aber gefährlich, wenn Sportexzess und Unterernährung zusammenkommen: Anfänglich droht die Gefahr ständiger Verletzungen und einem Leistungsabfall, weil der Körper sich nicht erholen kann und immer schwächer wird. So nimmt beispielsweise die Knochendichte aufgrund der Mangelernährung ab und so sind auch Knochenbrüche wahrscheinlicher. Langfristig drohen Osteoporose, eine Störung des Hormonhaushalts (Schlaf, Fruchtbarkeit, Libido, Hunger- und Sättigung, Insulin, Schilddrüsenhormone,…), irreparable Nierenschäden bis eben hin zum Tod.
Also auch wenn es in den Sozialen Medien und auch in der Gesellschaft hoch angepriesen wird, dass es etwas gutes ist, kein Workout auszulassen und bis zum Zittern zu trainieren (no pain, no gain und so ein Schwachsinn) – ist Sport nicht immer „gesund“. Nicht zu vernachlässigen, dass auch das Sozialverhalten und die Körperwahrnehmung darunter leiden, was wiederum Angststörungen und Depressionen begünstigen kann. Sei dir also den Risiken bewusst, wenn du weiterhin Sport betreiben willst, und ich hoffe, dass du dich für das Leben entscheidest, denn die Recovery lohnt sich wirklich!
So, nun aber dazu, was du tun kannst, um deine Hyperaktivität zu besänftigen, damit du dich eben nicht in Gefahr bringst und aus diesem elenden Kreislauf austreten kannst. Vielleicht hast du es schon erraten: um aus dem Kreislauf herauszukommen musst du bewusst aussteigen. Wenn du weiterhin in dem Ausmaß Sport reibst, dann hält das die chemischen Reaktionen in deinem Gehirn aufrecht. Was du aktuell machst, das scheint dir also nicht dabei zu helfen auszusteigen. Hier ein paar Tipps, wie du dein Bewegungspensum herunterfahren kannst, ohne dich zu überfordern.
Pass auf dich auf ♥
Behl, C. et al. (2008). Neurobiologie psychischer Störungen. In: Holsboer, F., Gründer, G., Benkert, O. (eds) Handbuch der Psychopharmakotherapie. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-540-68748-1_12
Duclos M, Gatti C, Bessière B, Mormède P. Tonic and phasic effects of corticosterone on food restriction-induced hyperactivity in rats. Psychoneuroendocrinology. 2009 Apr;34(3):436-45. doi: 10.1016/j.psyneuen.2008.10.008
Kohl M, Foulon C, Guelfi JD. Aspects comportementaux et biologiques de l’hyperactivité dans l’anorexie mentale [Hyperactivity and anorexia nervosa: behavioural and biological perspective]. Encephale. 2004 Sep-Oct;30(5):492-9. French. doi: 10.1016/s0013-7006(04)95463-2
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