Wie du mit der Angst vor der Zunahme umgehen kannst

Das Leben mit einer Essstörung hat sich für mich immer angefühlt, zwar lebendig zu sein, aber nicht wirklich zu leben. Es gab nur drei Lebensinhalte für mich: Essen, Bewegung und mein Gewicht und sehr schnell habe ich erkannt, dass ich so nicht weitermachen möchte – aber die Angst vor der Zunahme hat mich lange davor zurückgehalten, die Tür zur Recovery zu öffnen.

Ich hatte Angst dick zu werden. Ich hatte Angst davor, mich nicht in einem dickeren Körper wohl fühlen zu können. Ich hatte Angst davor, zu dem Zustand vor der Essstörung zurückzukehren - denn vor meiner Gewichtsabnahme war ich schließlich auch nicht zufrieden. Ich hatte Angst davor, was andere wohl dazu sagen würden. Ich hatte Angst, mehr zuzunehmen, als ich wollte. Ich hatte Angst.

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die Set-Point-Theorie (dein Happy-Gewicht)

Es gibt empirische Beweise dafür, dass es ein sogenanntes Set-Point-Gewicht gibt. Das ist das Gewicht, das dein einzigartiger und individueller Körper bevorzugt. Man geht davon aus, dass diese Gewicht beeinflusst wird von der Feedbackschleife im Hypothalamus (ein Abschnitt des Zwischenhirns) als auch durch Nährstoffe, Stoffwechselanpassungen an die Ernährung sowohl durch hormonelle, umwelt- und genetische Faktoren. 

Dieser Set-Point bewirkt, dass wenn wir aufgrund von “Überessen” oder “Unterernährung” zu- oder abnehmen, sich das Gewicht mit der Zeit wieder auf diesem Set-Point-Gewicht einpendelt. Man darf sich dieses allerdings weniger als eine ganz bestimmte Zahl vorstellen, viel mehr ist es ein Gewichtsbereich, welcher sich im Laufe des Lebens an die Umstände und auch das Alter anpasst.

Vergleich: Mein Auto hat ein eingebautes Thermostat, sodass ich einstellen kann, ob ich in meinem Auto 18, 20, 24, … Grad haben möchte. Es versucht mittels warmer und kalter Luft die angestrebte Temperatur zu erzielen. Wenn ich das Fenster an einem kalten Wintermorgen öffne, dann versucht es das mit vermehrter warmer Luft auszugleichen, an einem heißen Sommertag mit kalter Luft.

Das ist unter anderem auch ein Grund, warum strenge Diäten oder auch crash-Diäten nicht funktionieren: Follow-Up Studien zeigen, dass die meisten Teilnehmer der Show “Biggest Looser” später ein Teil oder das gesamte Gewicht wieder zunehmen. Da geht es nicht um “Willensstärke” sondern um den Set-Point (und oftmals auch um die verlorene Fähigkeit auf seinen Körper hören zu können, was unter anderem ja auch durch Restriktionen und Verbote verursacht wird).

Jeder Körper hat also sein Wohlfühlgewicht, auf welchem sich auch dein Gewicht einpendeln wird, wenn du dir bedingungslose Erlaubnis zu essen gibst. Du wirst also nicht unendlich viel zunehmen – sondern genau so viel, wie dein Körper braucht.

Angst vor der Zunahme | fear of gaining weight

Was steckt hinter der Angst vor der Gewichtszunahme?

Wenn ich dich frage, wovor du Angst hast, und du mir antwortest, dass du Angst vor einer Gewichtszunahme hast, dann kratzt dies nur an der Oberfläche. Damit du dich von der Angst vor der Zunahme befreien kannst, musst du dich zu ihrem Ursprung runter graben und die Wurzel behandeln. 

Warum hast du Angst zuzunehmen?

Warum hast du Angst “dick” zu werden?

Was verbindest DU damit? Ist es vielleicht Erfolg, Attraktivität, Schönheit, Glücklich-sein, Gemocht-werden, Wertvoll-sein, Disziplin,…? Auch wenn es unangenehm ist, sich diese Dinge vielleicht einzugestehen, ist es wichtig, dass du dir diese Frage stellst und auch schmerzhaft ehrlich zu dir bist.

Und dann gehe noch einen Schritt weiter. 

Ist es Wahr, dass du nicht schön sein kannst, wenn du ein paar Fettpölsterchen mehr hast? Ist es wahr, dass Essen Selbstdisziplin ist? Ist es ein Fakt, dass dicke Menschen nicht gesund sind? Sind alle Menschen, die in einem größeren Körper wohnen, unattraktiv sind? Hängt dein Glück wirklich von deinem Gewicht ab?

Du kannst glücklich mit jedem Gewicht sein.

Du kannst unglücklich mit jedem Gewicht sein.

Woher kommt dann die Angst vor der Zunahme?

Nimm dir einen Moment Zeit und überlege, warum du diese beiden Dinge miteinander verbindest. Hat es vielleicht jemand einmal zu dir gesagt? Haben dir deine Eltern diesen Glaubenssatz vorgelebt? Nimmst du dies in den Medien so wahr? ,… 

Bei meiner eigenen Essstörung spielte der Aspekt der Sicherheit immer wieder eine große Rolle. Eine Gewichtszunahme war für mich ein Verlust der Kontrolle. Es schien sicherer einfach weiterzumachen, anstatt mich den Unsicherheiten der Recovery zu stellen. Außerdem waren alle um mich besorgt, solange ich die Essstörung hatte und gingen somit auch sanfter mit mir um. Ich hatte also nicht nur Angst davor, die Kontrolle zu verlieren, sondern auch verletzt zu werden.

Dabei war die wahrgenommene Kontrolle und Sicherheit nur ein Trugbild. Je weniger ich aß, je mehr ich abnahm, desto mehr außer Kontrolle fühlte ich mich. Ich hatte plötzlich vor so vielen Dingen Angst, und wollte am Liebsten nur noch unter der Decke sitzen – die Essstörung hatte mir also alles andere als Sicherheit gegeben.

Warum Angst eigentlich etwas Gutes ist

Die Angst versucht uns zu schützen, kann aber auch maßlos über ihr Ziel hinausschießen, wenn es ein Dauerzustand wird und uns davor zurückhält, wichtige und schöner Erfahrungen machen zu können. 

Mehr oder weniger bewusst, hatte ich in meinem Kopf einen normalgewichtigen Körper mit Unzufriedenheit, Unsicherheit und unangenehmen Emotionen verknüpft. Ich wollte da nicht wieder zurück – was mir aber nicht bewusst war, ist, dass ich bereits vor der Essstörung eigentlich nicht unzufrieden mit meinem Körper war, sondern mit meiner Lebenssituation. Bei dir stemmt diese Angst vielleicht also auch aus deiner eigenen Erfahrung, vielleicht erhältst du aber auch dieses Bild, durch die sozialen Medien.

die Angst bringt dir nichts mehr

Die Essstörung hat mich durch meine schwerste Zeit gebracht. Sie war für mich Zuflucht und hat mich abgelenkt. Allerdings sind Essstörungen keine effektiven Coping-Strategien, auf lange Sicht zerstört es dich noch viel mehr als das eigentliche Problem. 

Es ist also Zeit, dich bei der Essstörung zu bedanken und sie in Liebe gehen zu lassen. 

Angst vor der Zunahme | fear of gaining weight

5 Schritte, um die Angst vor der Zunahme zu überwinden

  1. Nutze positive Affirmationen und ersetze limitierende Gedanken: anstatt: “Ich kann nur glücklich sein, solange ich dünn bin”, probiers mal mit: Meine Zufriedenheit hängt nicht mit meinem Gewicht – sondern mit meinen Gedanken zusammen. Zu Beginn mag sich dies eventuell etwas erzwungen anfühlen – das ist völlig in Ordnung. Indem du dich an diese Affirmationen wieder und wieder erinnerst, werden die weniger hilfreichen Gedanken auf lange Sicht durch hilfreichere ersetzt.

2. Vertraue, dass Zeit diese Wunde heilt. Es ist nicht angenehm Gewicht zuzunehmen, wenn es das ist, was man monatelang, oder sogar jahrelang zu vermeiden versucht hat. Doch es ist nicht schlimm, wenn sich dein Körper jetzt vielleicht erstmal komisch oder fremd anfühlt. Es braucht einfach Zeit, damit du dich an dein neues Ich gewöhnen kannst. 

3. Fokussiere dich auf die Dinge, die mit der Gewichtszunahme wieder vermehrt in dein Leben kommen. Vielleicht hast du dadurch mehr Energie, vielleicht hast du wieder mehr Lust, dich mit Freunden zu treffen und das Lächeln fühlt sich nicht mehr so gezwungen an. Oftmals hat man auch wieder mehr Spaß an Bewegung und vor allem kreativeren Dingen. 

4. Sei deinem Körper dafür dankbar, was er dich täglich erlaubt zu tun und zu erleben. Es ist okay, wenn du deinen Körper nicht für sein Aussehen lieben kannst – das musst du auch gar nicht, um ihn akzeptieren und wertschätzen zu können.

5. Geißel dich nicht selbst und überprüfe nicht immer und immer wieder dein Gewicht auf der Waage – wenn du auf die Waage stehst, gewinnst du nie. Geht das Gewicht runter, weißt du, es geht in der Recovery nicht in die richtige Richtung. Bleibt das Gewicht gleich, wünschst du dir, es wäre niedriger, wenn das Gewicht hoch geht, gehen die Alarmglocken los. 

Es ist okay, wenn du deinen Körper noch nicht dafür lieben kannst, wie er aussieht. Akzeptanz ist erstmal genug. Lass dich nicht von der Angst vor der Zunahme abhalten, endlich wieder dein Leben leben zu können und nicht mehr nur der leidende Betrachter deines eigenen Lebens zu sein. Ich bereue kein einziges Gramm, denn das Gewicht, das ich so sehr fürchtete war genau das, was ich gebraucht habe, um von der Angst loslassen zu können.

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