Die Verbindung zwischen Darm und Gehirn: Wie die Darm-Hirn-Achse bei Anorexie Einfluss auf Hunger und Sättigung nimmt

Du hast gerade eben gegessen, aber dein Magen knurrt trotzdem munter vor sich hin? Du fühlst dich satt und physisch voll, aber der Drang nach Essen bleibt trotzdem bestehen? Du hast Schwierigkeiten Hunger- und Sättigung überhaupt richtig wahrzunehmen? Hunger- und Sättigungsgefühle in der Recovery sind eine reine Achterbahnfahrt und können unglaublich frustrierend sein. Doch die guten Informationen zuerst: Du bist damit nicht alleine und mit deinem Körper läuft nichts “falsch”. Ich erkläre dir heute in dem Blog-Post die bisherigen Erkenntnisse über die Darm-Hirn-Achse bei Anorexie und wie das Wissen darüber dazu beitragen kann, Veränderungen in der Recovery besser zu verstehen und anzunehmen.

Darum geht es in dem Post

Hunger, Sättigung und die Darm-Hirn-Achse

Zunächst wollen wir uns ersteinmal ein paar grundlegende Mechanismen der Nahrungsaufnahme und dessen Ende anschauen:

Der Appetit dient als Signal für den Beginn des Essens und geht eher mit einer kognitiven Empfindung, die mit der Präferenz für bestimmte Nahrungsmittel zusammenhängt, einher. Die Sättigung markiert durch das einsetzende Völlegefühl das Ende einer Mahlzeit.  Der Hunger wird durch den Bedarf an Kalorien ausgelöst., während die “Satiety” das Verlangen nach einer neuen Mahlzeit unterdrückt. Man fühlt sich nach einer Mahlzeit hinreichend befriedigt und hat keinen weiteren Appetit mehr.

Die Darm-Hirn-Achse übernimmt die Kommunikation zwischen diesen Mechanismen und reguliert die biochemischen und neuronalen Prozesse im Hypothalamus (ein Teil des Zwischenhirns), die Hunger und Sättigung steuern. Unter “normalen Bedingungen” sind wir daher in der Lage, die Energieaufnahme sorgfältig mit dem Energieverbrauch abzustimmen, ganz ohne Kalorienzählen, Einschränken oder Abwiegen. Ein effizientes Regulationssystem existiert bereits, unser Körper kann genau kommunizieren, was er gerade braucht. Wenn dein Körper im Gleichgewicht ist, dann brauchst du dir also keine Sorgen darüber machen, dass Appetit langfristig auf ununterbrochene Nahrungsaufnahme führen würde.

Erklärung der Darm-Hirn-Achse und ihre Bedeutung für die Körperkommunikation

Die Darm-Hirn-Achse ist also ein komplexes Kommunikationssystem, das die Verbindung zwischen dem Verdauungstrakt (Darm) und dem Gehirn (zentrales Nervensystem) – bzw. dem Hypothalamus – beschreibt. Man geht davon aus, dass die Energieaufnahme im Hypothalamus dadurch gesteuert wird, indem periphere Signale (also Signale aus dem Körpergewebe sowie Organen) Informationen über den Energie- und Fettzustand übermitteln. Im Hypothalamus werden diese Eingaben in neuronale Reaktionen und in Verhaltensreaktionen umgewandelt, die wiederum die Nahrungsaufnahme und den Stoffwechsel regulieren.

Es gibt drei Arten von peripheren Signalen – also Signalen aus dem Körpergewebe und/oder den Organen, die neuronale Aktivitäten im Hypothalamus anstoßen und damit Hunger/Sättigung anstoßen: 

Kurzfristige Signale
– Magenhormon Ghrelin (Hunger-Signal),
– Dünndarm-Peptid Cholecystokinin (CCK; mahlzeitbezogenes Sättigungs-Signal).

Mittelfristige Signale
– im Dickdarm synthetisiertes Hormon PYY3e36, das den Appetit zwischen Mahlzeiten hemmt,
– Plasmakonzentrationen von Nährstoffen.

Langfristige Signale (von Fettgewebe und Bauchspeicheldrüse produziert)
– Hormon Leptin dient dazu, den Fettgehalt im Körper konstant zu halten,
– pankreatisches Hormon Insulin, das nicht nur den Blutzuckerspiegel reguliert, sondern zusammen mit Leptin das langfristige Körpergewicht reguliert,
– weitere Energie-Signale.

Darm-Hirn-Achse bei Anorexie
Abbildung nach (Meguid & Laviano, 2008, S. 273)

Wie du in der Abbildung nach Meguid & Laviano (2008) siehst, werden kurzfristige, mittelfristige und langfristige Signale an den Hypothalamus übermittelt. Im Hypothalamus wirken dann zwei “Pfade”, die dann je nach Hormon bzw. Peptid wiederum auf Verhaltensreaktionen wirken:

  1. der NPY/AgRP-Pfad, der “Appetitkreislauf” – Neuropeptid Y AgRP sind Botenstoffe, die in den Neuronen des Pfades produziert werden. Dadurch steiht steigt der Appetit, und das Verlangen nach Essen nimmt zu. Dieser Pfad wird durch periphere Signale wie Ghrelin, das Hunger-Signal, aktiviert.
  2. und der POMC-Pfad, der “Sättigungskreislauf” – POMC ist ein Vorläuferprotein, das in verschiedene Neurotransmitter und Hormone zerlegt wird, darunter das alpha-Melanotropin, das das Sättigungsgefühl fördert. Wenn dieser Pfad aktiviert ist, führt das zu einem verringerten Appetit und einem gesteigerten Sättigungsgefühl. Dieser Pfad wird durch Signale ausgelöst, die auf gesättigte Nahrungszufuhr hinweisen.

Diese beiden Pfade interagieren und wirken zusammen, um das Gleichgewicht zwischen Hunger und Sättigung zu steuern. Der NPY/AgRP-Pfad stimuliert den Appetit, während der POMC-Pfad das Sättigungsgefühl fördert. Je nach den Signalen, die der Körper empfängt, wird einer dieser Pfade dominanter sein und somit beeinflussen, ob wir hungrig sind oder uns gesättigt fühlen.

Falls das alles jetzt irgendwie ziemlich wissenschaftlich und schwer verdaulich klang, hier eine vereinfachte Erklärung: Die Menge an Nahrung, die wir essen, wird hauptsächlich von einer Region in unserem Gehirn, dem Hypothalamus, gesteuert. Der Hypothalamus überwacht ständig, wie viel Energie unser Körper hat, indem er wahrnimmt, wie viele Nährstoffe im Blut sind, und er bekommt auch Informationen von verschiedenen Körperteilen wie Mund, Darm, Leber und Fettgewebe. Während wir essen, produziert unser Gehirn und unser Magen-Darm-Trakt bestimmte Substanzen, die Signale an unser Gehirn senden und beeinflussen, wie viel wir essen wollen und wie unser Körper Nährstoffe verarbeitet. All diese Informationen werden von speziellen Zellen im Hypothalamus verarbeitet und beeinflussen dann unser Essverhalten und unseren Stoffwechsel.

Unser Körper verfügt über ein ziemlich ausgeklügeltes und komplexes System, um die Nahrungszufuhr und den Energiehaushalt optimal zu regulieren. Eigentlich müssen wir also gar nicht von außen durch strenge Diäten, Hungern oder Kompensation eingreifen. Vielmehr sollten wir gerade das nicht tun, um eben das System nicht aus der Balance zu bringen.

einige Störungen der Darm-Hirn-Achse bei Anorexie

Die gestörte Ernährung, der Mangel an Nährstoffen und die psychischen und physischen Belastungen bei Anorexia Nervosa können die normale Kommunikation und Wechselwirkung zwischen Darm und Gehirn beeinträchtigen, was zu einer Dysregulation der Darm-Hirn-Achse führt. Konkret kann das folgende Wirkungen haben:

1. Erhöhte Ghrelinspiegel (Hungersignal): Bei Patienten mit Anorexia wurden erhöhte Ghrelinspiegel festgestellt. Das kannst du dir wie eine Anpassungsreaktion vorstellen, um den Körper dazu zu bringen, mehr Energie und Nährstoffe aufzunehmen, da er dem Energiedefizit und dem Nährstoffmangel nicht auf Dauer standhalten kann. Zudem konnte festgestellt werden, dass die Ghrenlinwerte nach einer Mahlzeit nicht wie bei gesunden Personen abfällt. Der Ghrelinspiegel neigt jedoch dazu, sich nach der Wiederernährung (Refeeding) zu normalisieren (dieser Aspekt ist vor allem für diejenigen unter uns interessant, die Extremhunger erfahren – der Hunger wird wieder regulierter und “normaler”.)

2. PYY ist ein Hormon im Körper, das den Appetit (zwischen den Mahlzeiten) kontrolliert. Bei Menschen mit Magersucht können die PYY-Spiegel im Blut entweder normal, erhöht oder reduziert sein. Dies kann dazu führen, dass ihr Körper anders auf Essen reagiert und sie möglicherweise mehr oder weniger Appetit haben. Auch nachdem Menschen mit Magersucht etwas zugenommen haben, können sich die PYY-Spiegel nicht vollständig normalisieren, und sie könnten immer noch Schwierigkeiten haben, normale Essgewohnheiten zu entwickeln.

3. CCK beeinflusst, wie sich der Magen nach dem Essen fühlt und hilft dabei, zu signalisieren, dass man satt ist. Einige Studien haben gezeigt, dass die CCK-Spiegel bei Menschen mit Magersucht in Ruhe oder nach dem Essen erhöht sein können. Andere Studien haben jedoch gezeigt, dass die CCK-Funktion bei Magersucht ähnlich oder sogar niedriger sein kann als bei gesunden Menschen. Das bedeutet, dass bei Menschen mit Magersucht die Art und Weise, wie CCK im Körper funktioniert, komplex sein kann und von Person zu Person unterschiedlich sein kann. Das gibt dann auch einen Hinweis darauf, warum nicht alle Extremhunger in der Recovery erfahren.

4. Bei Magersucht sind die Leptinspiegel im Körper niedrig. Leptin ist ein Hormon, das unserem Körper sagt, wie viel Fett wir haben und wie viel wir essen sollten. Wenn jemand wenig isst, sinken die Leptinspiegel, was dazu führen kann, dass der Körper versucht, Energie zu sparen. Menschen mit Magersucht haben oft niedrige Leptinspiegel im Blut, weil sie wenig essen und wenig Körperfett haben. Interessanterweise können trotz niedriger Blutspiegel von Leptin Menschen mit Magersucht normale Leptinspiegel im Bauchfettgewebe haben. Das könnte bedeuten, dass sich ihre Fettzellen anders verteilen als bei gesunden Menschen. Wenn sie wieder mehr essen und zunehmen, steigen die Leptinspiegel normalerweise an.

Diese Einblicke in Störungen der Darm-Hirn-Achse bei Anorexie verdeutlichen, wie stark die gestörte Ernährung, der Nährstoffmangel und die psychischen Belastungen das empfindliche Gleichgewicht zwischen unserem Darm und Gehirn stören können. Dies führt zu einer Dysregulation der Darm-Hirn-Achse bei Anorexie, was wiederum die Kontrolle von Hunger und Sättigung beeinflusst. 

Falls du also in der Recovery steckst, dann ist es nicht verwunderlich, wenn du dir noch schwer tust, deinen Hunger und deine Sättigung zu spüren. Die Balance zwischen den verschiedenen Transmittern in deinem Körper herzustellen braucht Zeit. Vertraue darauf, dass es dein Job erstmal ist, deinem Körper ausreichend Nährstoffe und Energie zur Verfügung zu stellen und an deiner psychischen Verfassung zu arbeiten, damit er den "Rest" regeln kann.

Förderung einer gesunden Darm-Hirn-Kommunikation sowie Hunger und Sättigung

Auch wenn es ersteinmal “normal” ist, dass die Kommunikation über die Darm-Hirn-Achse in der Recovery von einer restriktiven Essstörung nicht optimal funktioniert, gibt es einige Dinge, die du tun kannst, um die Regulation zu fördern.
  • Ausgewogene Ernährung: Eine ausgewogene Ernährung mit ausreichenden Nährstoffen und vor allem Kalorien ist entscheidend, um den Körper mit Energie zu versorgen und die Hormonproduktion zu normalisieren. Das bedeutet, dass wieder alle Lebensmittel in deiner Ernährung Platz finden dürfen und es keine Verbote mehr gibt, damit sich die Vielfalt an Darmbakterien wieder vermehrt, was sich positiv auf die Darm-Hirn-Kommunikation auswirkt.
  • Gewichtszunahme bzw. finde deinen Set-Point. Nimm schrittweise zu. Ja, das ist unangenehm und herausfordernd, aber das ermöglicht es, mögliche Hormonschwankungen auszubalancieren. Und vor allem: einige Hormone zur Regulation von Hunger und Sättigung werden im Fettgewebe produziert.
  • Regelmäßige Mahlzeiten und Zwischensnacks helfen dir, den Blutzuckerspiegel konstant zu halten und du Produktion von Verdauungshormonen anzuregen. Ich empfehle dir mindestens alle 3-4 Stunden etwas zu essen.
  • Ein höherer Proteingehalt in der Nahrung kann höhere PYY-Werte bewirken, das verbessert die Regulation von Appetit zwischen den Mahlzeiten (das bedeutet aber nicht, dass jede Mahlzeit “high protein” sein muss. Versuche einfach, wenn es passt, eine Proteinquelle dazuzunehmen)
  • Psychologische Unterstützung und Stressmanagement
  • Bewegung in Maßen: Moderate Bewegung kann die Darmtätigkeit fördern und die Stimmung verbessern, aber übermäßige körperliche Aktivität kann den Hormonhaushalt stören. Vor allem, wenn du im starken Untergewicht bist, ist es auch einfach mal förderlicher eine Weile die Bewegung auf ein Minimum zu reduzieren. Später kannst du leichte Dehnübungen und achtsame Spaziergänge hinzufügen.

Gib dir selbst und deinem Körper Zeit. Übe dich in Geduld und vertraue darauf, dass dein Körper die Fähigkeiten hat, wieder zu einem normalen Essverhalten zurückzufinden. Zu Beginn ist es ersteinmal wichtig, dass du einfach ausreichend isst und sich dein Gewicht stabilisiert. Das unterstützt nicht nur Hunger und Sättigung, sondern ist auch notwendig, um dich psychisch zu stabilisieren. Pass gut auf dich auf!

Literatur

  • Meguid, M. M. & Laviano, A. (2008). Basics in Clinical nutrition: Appetite and its control. e-SPEN. https://doi.org/10.1016/j.eclnm.2008.06.007
  • Smitka, K., Papezova, H., Vondra, K., Hill, M., Hainer, V. & Nedvídková, J. (2013). The Role of “Mixed” Orexigenic and Anorexigenic Signals and Autoantibodies Reacting with Appetite-Regulating Neuropeptides and Peptides of the Adipose Tissue-Gut-Brain Axis: Relevance to Food Intake and Nutritional Status in Patients with Anorexia Nervosa and Bulimia Nervosa. International Journal of Endocrinology, 2013, 1–21. https://doi.org/10.1155/2013/483145
the brain-gut-axis in anorexia | Die Darm-Hirn-Achse bei Anorexie
Screenshot 2023 08 19 151303 Die Verbindung zwischen Darm und Gehirn: Wie die Darm-Hirn-Achse bei Anorexie Einfluss auf Hunger und Sättigung nimmt

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