Die Angst vor dem Gesund-sein (Essstörung Q&A pt.8)

Ich will gesund werden, aber irgendwie auch nicht. Vielleicht nur ein bisschen, aber bloß nicht ganz gesund… Aber eigentlich will ich ja gesund sein und ein Essstörungsfreies Leben genießen. Wenn das mit dem Gesund-werden und Loslassen doch nur so einfach wäre. Aber warum ist das eigentlich so, dass wir an der Essstörung festhalten, wenn sie uns doch eigentlich schadet? Und viel mehr noch: Wie kannst DU mit diesen gemischten Gefühlen konstruktiv und effektiv umgehen?

Frage einer Leserin (Essstörung Q&A): Wieso fühlt es sich so schlimm an, wenn während der Zunahme langsam einzelne Symptome weniger werden z.B. Haare fallen weniger aus, mir ist kaum mehr kalt, ich hab den ganzen Tag genügend Energie, ... Es sind ja eigentlich schöne, angenehme Dinge die sich verändern, trotzdem jedes Mal wenn ich darüber nachdenke oder es bemerke fühle ich mich unglaublich schlecht, unwohl, überfordert und irgendwie als wäre ich schon „zu schnell zu gesund" geworden... Kennst du das?

Darum gehts hier

Vergleich mit einer toxischen Beziehung

Den Begriff „toxische Beziehung“ hast du mit Sicherheit schoneinmal gehört – ich finde, dass die Bezeichnung für eine Beziehung auch ziemlich gut zu der Beziehung zwischen der Essstörung und der betroffenen Person passt. Aber was genau versteht man eigentlich unter einer toxischen Beziehung?

„Eine toxische Beziehung ist laut Definition eine dysfunktionale, destruktive Beziehung, in der die Bedürfnisse eines der beiden Partner im Vordergrund stehen, während die des anderen nicht beachtet und übergangen werden.“ Kommt dir bekannt vor? Die Essstörung verlangt von dir, dass du Sport machst, obwohl du müde bist, dass du das Essen überspringst, obwohl dir schon schwindelig vor Hunger ist, sie will, dass du eine Paprikahälfte anstatt einer Brotscheibe isst, … Es geht eigentlich nie um das, was du eigentlich willst und viel mehr noch: Die Essstörung ist NIE zufrieden.

Warum gehen Menschen überhaupt eine toxische Beziehung ein? Anfangs überblendet der Zauber des Verliebtseins die wahren Charakterzüge. Die Beziehung scheint Sicherheit, Geborgenheit, Anerkennung, … zu geben. Ähnlich wie bei der Essstörung – zu Beginn ist alles beinahe magisch. Es fühlt sich gut an, den Körper zu kontrollieren, die Zahl auf der Waage runter anstatt hochgehen zu sehen, es fühlt sich gut an, all die ungewünschten Gefühle mit Hunger unterdrücken zu können. Die Essstörung erfüllt somit einen Zweck und ist nicht grundlos zu deinem täglichen Begleiter geworden.

Was passiert mit dem anfänglichen Zauber? Immer und immer wieder wird man von der Partnerin/dem Partner verletzt. Immer wieder fühlt man sich mit der Beziehung in gewisser Weise unglücklich. Und der Wunsch, dass der andere wieder gut zu einem ist, ist übermächtig. Genau so ist das auch in der Essstörung. Die Verhaltensweisen, die einen irgendwie zwar glücklich machen, schaden einem auch. Man merkt, wie man immer schlechter schläft, die Haare weniger und dünner werden, man ständig schlecht gelaunt ist und alle einfach nur nerven. Man merkt, dass etwas nicht stimmt, dass man so eigentlich nicht weiter machen kann und man etwas verändern muss, wenn man überleben möchte.

Und warum bleiben Menschen in toxischen Beziehungen? Als Außenstehende Person kann es unnachvollziehbar sein, warum eine Person in einer toxischen Beziehung bleibt, wenn sie doch immer und immer wieder verletzt und enttäuscht wird. Es ist für Außenstehende unerklärlich, warum Betroffene von Magersucht nicht einfach essen. Warum man also in dem Zustand des Leidens bleibt, kann unterschiedliche Gründe haben:

Warum will man krank sein?

Ist das nicht eigentlich genau die gleiche Frage? Warum willst du krank sein? Warum willst du in der Essstörung bleiben? Hier sind ein paar Gedanken, bei denen du überlegen kannst, ob diese eventuell auch auf dich zutreffen: 

  • die Essstörung erfüllt einen Zweck: Sie erlaubt es dir dich zurückzuziehen, eine Krankheit bringt dir Aufmerksamkeit und Sorgen von anderen, dämpft deine Gefühle ab, zeigt dir Leidensfähigkeit und füllt deine Zeit. Die Essstörung erfüllt diesen Zweck zwar, aber nicht sonderlich gut – es ist eine ineffektive Art und Weise mit dem Leben umzugehen. (zu „copen“)
  • ein niedriger Selbstwert kann dazu führen, dass man tatsächlich denkt, dass man es verdient hat, zu leiden. Dass man es nicht verdient, auf seinen Körper aufzupassen und ihn zu nähren – geschweige denn zufrieden zu sein. Diese Meinung wird durch Erfahrungen in der frühen Kindheit und Jugend, aber auch durch Glaubenssätze, die später erst durch die Medien aufgefasst wurden, gefestigt sein.
  • die Essstörung gibt dir Sicherheit. Recovery hingegen ist wie ein schwarzes Loch. Es liegt weit außerhalb der Komfortzone. Man weiß nicht, was in der Recovery passiert oder danach. Keiner kann dir sagen, wie viel du zunehmen wirst, wie lange es dauert, wie dein Leben danach aussieht, usw. Aber nicht alles, das sich sicher anfühlt, ist auch sicher.

woran du merkst, dass dein Körper allmählich heilt

In der Recovery müssen wir uns nicht nur ständig unseren Ängsten stellen, sondern werden auch immer wieder mit Veränderungen konfrontiert. Zwar ist es wichtig, schön und etwas Gutes, wenn dein Körper und Geist heilen – aber kann man eigentlich zu schnell recovern? – Nein, kann man nicht. Die einen nehmen schneller zu, andere langsamer. Das ist okay und ganz individuell. Die Recovery ist kein Wettbewerb, weder die Person, die am langsamsten, noch die Person, die am schnellsten heilt, erhält einen Preis. Die Stimme, die dir sagt, dass du zu schnell heilst, ist die Essstörung, die dir ein schlechtes Gewissen einreden möchte. Höre nicht darauf. Dein Körper will gesund sein. 

offensichtliche Veränderungen

  • Wiederherstellung des Gewichts, Erreichen des Seit Point Gewichts
  • Rückkehr der Hunger- und Sättigungsgefühle, bis hin zu regelmäßigen und verlässlichen Signalen
  • Babyhaare, die allmählich stärker und länger werden
  • mehr Energie und Kraft
  • weniger blaue Flecken
  •  man fühlt sich nicht mehr 24/7 eiskalt
  •  bessere Verdauung, weniger Blähungen, Bauchschmerzen und/oder Verstopfung
  • man hat wieder einen Appetit
  • du schläfst besser
  • dir ist nicht mehr ständig schwarz vor Augen

Was du vielleicht nicht vermutet hättest:

  • auch extreme Erschöpfung kann ein Zeichen sein, dass dein Körper heilt, er traut sich endlich aus dem Fight-or-Flight Modus zukommen
  • Extremhunger, dein Körper wagt es endlich, seine Energie aufzuwenden, um dir zu signalisieren, dass er Energie braucht
  • intensivierte Gefühlswahrnehmung, das bedeutet auch, dass unangenehme Gefühle stärker wahrgenommen werden und es sich erstmal so anfühlen kann, als würde alles schlimmer anstatt besser werden
  • (nächtliches) Schwitzen – ist darauf zurückzuführen, dass dein Stoffwechsel hochfährt.

Menschen sind Gewohnheitstiere

Wie bereits angesprochen, werden wir in der Recovery ständig von Veränderungen konfrontiert. Das ist unangenehm und fühlt sich „falsch“ an, obwohl es ja etwas Gutes ist, wenn dein Körper heilt. Das liegt daran, dass Menschen Gewohnheiten und Routinen lieben. Gewohnheiten machen den Tag und das Leben berechenbar. Während der Essstörung waren deine Safe Foods, deine täglichen Aktivitäten, Routinen und Zwänge innerhalb deiner Komfortzone. Allerdings hat genau das dich auch in deinen Möglichkeiten das Leben auszuschöpfen beschränkt. Die Essstörung hat nichts anderes in deinem Leben erlaubt, außer dein Gewicht, Essen und andere Zwänge.

Recovery hingegen liegt außerhalb der Komfortzone. Es ist ungemütlich zuzuschauen, wie sich dein Körper fast täglich verändert. Es ist ungemütlich sich 4-6 mal am Tag seiner Angst vor dem Essen stellen zu müssen. Es ist ungemütlich Routinen zu durchbrechen, Zwänge loszulassen und neues auzuprobieren. Aber indem du dich all diesen Sachen immer und immer wieder stellst, wird der neue Zustand wieder zur Gewohnheit. Was ich dir damit eigentlich sagen möchte ist: Dieser ungemütliche Zustand ist temporär, wenn du diesen Weg weitergehst und darauf vertraust, dass ein erfüllteres, essstörungsfreies Leben auf dich wartet, dann fühlt es sich wieder gut an, gesund zu sein.

Meine Tipps für dich ♥

Damit du dir selbst die Zeit in der Recovery so schön wie eben möglich machen kannst, habe ich hier ein paar Tipps für dich, wie du mit Veränderungen und dem Gedanken, deine Essstörung loszulassen, besser umgehen kannst. Bestimmt ist hier für jeden mindestens 1-2 Sachen dabei, schau einfach selbst, was dir gut tut.

  • Versuche Body Checking und die Waage zu vermeiden. Mach es dir nicht noch zusätzlich schwer, indem du jeden Tag abcheckst, was sich bereits verändert hat. Versuche es einfach geschehen zu lassen. 
  • überlege dir dein Warum. Warum willst du gesund sein, warum musst du für Dinge, die du in deinem Leben noch erreichen möchtest, gesund sein? Werde auch gerne kreativ, erstelle ein Pinterest Board, zeichne ein Vision Board, Journale, ….
  • versuche dich nicht mit anderen in der Recovery zu vergleichen. Folge auf Instagram lieber Accounts, welche bereits weiter als du in der Recovery sind, als Coach, Therapeut oder Berater arbeiten. Folge auch einigen Personen, die vielleicht gar nichts mit Essstörungen zu tun haben. Und vor allem: Entfolge allen, die dir kein gutes Gefühl über dich selbst geben.
  • lenke dich ab beispielsweise indem du ein neues Hobby findest (Häkeln, Stricken, Malen, Ukulele oder Blockflöte spielen, Singen, Puzzeln, Lesen, Fotografie, …)
  • übe dich in Dankbarkeit. Lerne wieder mehr dankbar für die Gesundheit, für all das, was dein Körper dir erlaubt, für die Natur, für dein Umfeld, … zu sein.
  • challenge deine Essstörung. Je weniger du auf sie hörst, desto leiser wird sie. Und wenn sie dich doch einmal anschreit, dann erinnere dich daran, dass dir diese Gedanken eigentlich gar nichts anhaben können, solange du sie nicht ausführst. Du entscheidest.

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rund um das Thema Genesung von Essstörungen, Intuitives Essen oder "Health at every size"/ eating disorder recovery related, about intuitive eating or health at every size.
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